Achtung, Retusche!
Schneeweiße Zähne, Wespentaille, porenlose Haut – damit ist jetzt Schluss. Zumindest in Norwegen. Zumindest in der Werbung. Zumindest dann, wenn auf die Retusche nicht explizit hingewiesen wird. Seit dem 1. Juli gilt in dem skandinavischen Land eine Kennzeichnungspflicht jeglicher Werbebilder, für die das Aussehen abgebildeter Personen verändert worden ist. Haare, Make-up und Styling im Vorfeld eines Shootings sind erlaubt, jegliche körper- oder gesichtsverändernde Retusche in der Post Production muss hingegen gekennzeichnet sein. Dazu gehören laut offizieller Seite der norwegischen Regierung Veränderungen der Körpergröße, der Körperform oder auch der Haut einer Person. „Es wird eine wirksame Maßnahme gegen den ungesunden Körperdruck sein, dem vor allem Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind“, begründet die Ministerin für Kinder und Familie Kjersti Toppe die neue Kennzeichnungspflicht in einer Mitteilung der norwegischen Regierung. Sie gilt für alle Medien und explizit auch für Influencer und Personen, die im Internet – inklusive Social Media – Werbung schalten. Auch wie die Kennzeichnung umzusetzen ist, wurde bereits genau festgelegt: „Retuschierte Person“ steht auf dem runden Hinweisschild, das in der linken oberen Ecke der Werbung platziert sein und sieben Prozent der Bildfläche einnehmen muss.
Achtung, Bildbearbeitung! Seit dem 1. Juli müssen in Norwegen manipulierte Personenbilder in der Werbung mit diesem Hinweis versehen werden. (© norwegische Verbraucheraufsichtsbehörde)
Die neue Kennzeichnungspflicht kann als kleine Kampfansage gegen überzogene Schönheitsideale, normierte Körperbilder und unnatürliche Vorstellungen vom menschlichen Aussehen betrachtet werden. Was sagen die Medien hierzulande? „Feiert den Allerweltskörper!“ ruft der SPIEGEL schon in der Überschrift zu mehr Realität in Werbung und sozialen Medien auf. „Eine Werbebranche, die computergeschönte Körper kennzeichnen muss, wird uns mehr Normalität zeigen“, ist Redakteur Benjamin Maack überzeugt, „oder eben offenlegen müssen, dass jemand nachträglich aufgehübscht wurde.“ Ein wenig vorschnell urteilt die BRIGITTE in ihrer Rubrik Good News: „Norwegen setzt dem Filter-Wahn jetzt ein Ende“. Unser Blick in die Glaskugel: Vermutlich werden Photoshop und Instagram-Filter auch im hohen Norden künftig nicht weniger eingesetzt als hierzulande – zumindest aber wird diese Verwendung nun ausdrücklich kennzeichnungspflichtig. Ausgenommen von der Regel bleiben lediglich Retuschen, die auch zu analogen Zeiten in der Dunkelkammer möglich gewesen wären: aufhellen, abdunkeln, schärfen.
Norwegen geht mit gutem Beispiel voran, andere Länder könnten bald folgen. Während in Frankreich die Kennzeichnung derart bearbeiteter Fotos schon seit 2017 mit dem „Décret Photoshop“ verpflichtend wurde und auch Israel ein ähnliches Gesetz eingeführt hat, haben sich die Gleichstellungsministerinnen und -minister Deutschlands kürzlich während der Gleichstellungs-und Frauenminister-Konferenz (GFMK) ebenfalls für eine Kennzeichnungspflicht von Bildern ausgesprochen, sobald es sich um Werbung handelt oder die Person bzw. Seite eine Reichweite von mehr als 10.000 Follower erzielt.
Mit Protesten von der Agentur- und Werbeseite ist vermutlich ungleich weniger zu rechnen als damals bei der Einführung der abschreckenden Bilder auf Tabakverpackungen. Oder? „Grundsätzlich geht die norwegische Regelung aus unserer Sicht in die richtige Richtung“, sagt Stephan Bock, Geschäftsführer bei unseren Kollegen von Westend61, „es ist wichtig, dass Models nicht total entfremdet werden, ohne hierzu befragt zu werden. Wir wissen, dass Werber bzw. Kunden bei einer Kampagne eine solche Kennzeichnungspflicht zwar nachvollziehbarerweise stört, eine gesonderte Einverständniserklärung des Models aber wiederum könnte ja eine Lösung oder Voraussetzung dafür sein, damit die Kennzeichnungspflicht entfällt.“ Wobei hier nicht die Wirkung des Schönheitsbildes auf den Konsumenten bzw. die Konsumentin der Werbung beachtet wird. Das Knifflige sei für Stephan Bock die Definition von „wesentlicher“ Veränderung. Geht es um einen Pickel, der weggenommen wird ? Wird die Haarfarbe angepasst oder gleich der ganze Kopf ausgetauscht? „Die Debatte hierüber wird wichtig werden – gerade im Rahmen der aufkommenden Tools im Bereich künstlicher Intelligenz, die Menschen per Mausklick entfremden.“
Alice Feja, Head of Art Production bei Accenture Song/Kolle Rebbe und Mutter zweier heranwachsender Kinder, ist eine klare Befürworterin der Kennzeichnungspflicht. „Beauty-Filter und bearbeitete Bilder im Allgemeinen prägen nachweislich ein unrealistisches Schönheitsideal“, ist sie überzeugt. „Insbesondere auf den für die GenZ relevanten Kanälen wie Instagram und TikTok sollten mit Beauty-Filtern bearbeitete Bilder und aufgenommene Bewegtbilder kenntlich gemacht werden.
In der Werbung gibt es schon seit Jahren einen Trend in Richtung authentischer Bildsprache. So ist für uns und die meisten unser Kunden Authentizität und Diversität bei der Auswahl von Modellen wichtiger als klassische Schönheitsideale.“ Damit gehe auch der Trend einher, Bilder nur minimal zu retuschieren. „Ein unattraktiver, großer Störer, der auch stark bearbeitete Personenbilder in der Werbung kennzeichnet, wird diesen Trend sicherlich noch verstärken.“ In dem Zusammenhang wünscht sich Alice Feja, dass man auch vermehrt über stark bearbeitete Food-Fotografie nachdenke: „Auch da wäre ein Mehr an Authentizität wünschenswert.“
Wer mehr Authentizität auf Norwegisch erleben möchte, dem sei dieses Video empfohlen, das auch ohne Norwegisch-Kenntnisse funktioniert. In diesem Sinne:
Bleiben Sie authentisch und uns gewogen!
Autorin: jk
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